Premium Bilanzen Das 352-Milliarden-Euro-Risiko der Dax-Konzerne

Die Dax-Konzerne haben immer mehr sogenannte Goodwill-Werte in ihren Bilanzen.
Düsseldorf Pandemie und Ukrainekrieg beenden einen der längsten Aufschwünge der Nachkriegsgeschichte. Für die deutsche Wirtschaft ist das ein Problem, denn viele Unternehmen sind nach wie vor auf Wachstum ausgerichtet. Mit 352 Milliarden Euro aus überteuerten Zukäufen strapazieren die 40 Dax-Konzerne aktuell ihre Bilanzen so stark wie noch nie. Das sind nach Handelsblatt-Berechnungen zehn Prozent mehr als ein Jahr zuvor und gut doppelt so viel wie noch 2005.
Bei der Summe geht es um Geschäfts- und Firmenwerte (Goodwill) aus Übernahmen, für die es keinen materiellen Gegenwert gibt. Bei 32 der 40 Konzerne erhöhten sich binnen eines Jahres die Goodwill-Bestände, besonders stark beim Medizintechnikkonzern Siemens Healthineers von neun auf 17 Milliarden Euro. Acht Unternehmen im Dax, MDax und SDax haben sogar mehr Goodwill als Eigenkapital angehäuft, darunter die Dax-Konzerne Bayer und Fresenius Medical Care.
„Anleger sind gut beraten, sich die Höhe des Goodwills im Verhältnis zum Eigenkapital anzuschauen“, sagt Christof Schürmann, Analyst beim Flossbach von Storch Research Institute. „Vor dem Hintergrund höherer Zinsen und schlechterer Aussichten sollte man deutlich höhere Abschreibungen erwarten“, warnt der Bilanzexperte mit Blick auf die anstehende Berichtssaison zum abgelaufenen Geschäftsjahr. Auch wenn die Erfahrung zeige, dass viele Firmen in der Vergangenheit oft in der Lage waren, Abschreibungen zu umschiffen.
Dax-Konzerne stehen schlecht da
Bei den Geschäfts- und Firmenwerten geht es keineswegs nur um abstrakte Bilanzrisiken: Abschreibungen verringern den Nettogewinn und das Eigenkapital – und damit künftige Dividenden und Investitionen. Das geht zulasten der Aktienkurse.
Der Goodwill ist eine Position auf der Vermögensseite der Bilanz, der immer dann nach Übernahmen entsteht, wenn Unternehmen mehr Geld für die gekauften Firmen bezahlen, als sich dort in den Büchern an Vermögen finden lässt. Rechnen sich diese Firmenwerte später nicht mehr, weil die eingekauften Geschäftsmodelle und Technologien veralten oder sich die finanziellen Annahmen infolge schlechterer Konjunkturerwartungen und höherer Energiepreise verändern, so sind die Konzerne zu Abschreibungen gezwungen.
>> Lesen Sie hier: Wirtschaftsaufschwung ist in Deutschland nicht in Sicht
Solche Abwertungen sind zwar nicht zahlungs- und damit cashwirksam, vermindern aber die Gewinne – und damit auch das für die Existenz nötige Eigenkapital.
Goodwill: Deutsche Unternehmen stehen im internationalen Vergleich schlecht da
Im internationalen Vergleich stehen deutsche Unternehmen mit Blick auf den Goodwill vergleichsweise schlecht und risikobelastet da. Nach einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie des Flossbach-Bilanzexperten Schürmann haben die 40 Dax-Konzerne 4,6 Prozent der weltweiten Geschäfts- und Firmenwerte in Höhe von 9400 Milliarden Dollar angehäuft.
Der Dax macht aber nur 1,6 Prozent der weltweiten Marktkapitalisierung aller Aktien aus. Die Goodwill-Bestände der Dax-Unternehmen sind also überdurchschnittlich hoch.
Auch bei Relationen innerhalb der Bilanz stehen die Dax-Unternehmen schlecht da. So liegen einer Untersuchung des amerikanischen Finanzdienstleisters Capital IQ zufolge die Anteile von Goodwill zum Eigenkapital bei allen börsengelisteten Unternehmen weltweit bei rund 18 Prozent. Bei den Dax-Firmen machte der Goodwill dagegen knapp 34 Prozent des Eigenkapitals aus.
Viel Goodwill, wenig Eigenkapital: Börse bestraft Risiko-Bilanzen
Gerade Unternehmen mit viel Goodwill und wenig Eigenkapital sind bedroht. Der Aktienmarkt misstraut solchen Unternehmen besonders in Krisenzeiten. Auf Sicht der letzten drei Jahre, in denen zuerst die Pandemie und anschließend Russlands Angriffskrieg in der Ukraine die Aktienmärkte belasteten, entwickelten sich die Aktien von Bayer und Fresenius Medical Care deutlich schlechter als der Dax.
Dasselbe gilt für Teamviewer und Pro Sieben Sat 1 im MDax. Der IT-Dienstleister Nagarro, der Softwarespezialist Suse und der Rüstungskonzern Hensoldt aus dem SDax notieren noch nicht so lange an der Börse. All diese Unternehmen haben mehr Goodwill als Eigenkapital angehäuft.
Die schlechteste Quote hat Teamviewer: Firmenwerten von 669 Millionen Euro steht nur ein Eigenkapital von 89 Millionen Euro gegenüber. Das birgt Risiken: Müssten diese Firmen ihren Goodwill komplett abschreiben, wären sie überschuldet.
Die Aktien solcher Unternehmen stehen auch deshalb im Fokus, weil der Goodwill gleich von zwei Seiten unter Druck gerät: aufgrund schlechterer Geschäfte infolge des konjunkturellen Abschwungs, weil sich dadurch künftige finanzielle Annahmen verringern, und wegen steigender Zinsen.
Bei der Rechnungslegung und Betrachtung der Firmenwerte werden zukünftige Zahlungsströme auf den heutigen Wert heruntergerechnet. Bei einem Zins von beispielsweise fünf Prozent sind die zukünftigen Zahlungsströme weniger wert als bei einem Zins von einem Prozent. Anders ausgedrückt: Je niedriger der Zins aktuell ist, desto mehr ist das Geld heute wert. Bei einem hohen Zins ist es heute weniger wert als in der Zukunft.
Bilanzblase wird immer größer
Doch trotz sinkender wirtschaftlicher Frühindikatoren und zugleich drastisch steigender Zinsen haben die Unternehmen ihre Bilanzen 2022 weiter strapaziert. Zwar weist nur etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen quartalsweise oder halbjährig ihre Goodwill-Bestände aus. Deshalb gibt es Gesamtzahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr erst mit Abschluss der Berichtssaison Ende April.
Doch schon jetzt wird nach einer Handelsblatt-Bilanzanalyse aus den ersten drei Quartalen deutlich, dass die Goodwill-Bestände weiter steigen. Signifikante Zuwächse gab es 2022 im Dax bei Bayer, SAP, Siemens, Fresenius, Linde, Merck und Infineon.
Die Unternehmen wiegeln indes ab und verweisen auf die international anerkannte Rechnungslegung. „Als forschungs- und entwicklungsintensiver Konzern fokussieren wir uns bei unseren Akquisitionen auf innovationsstarke Unternehmen“, sagte ein Bayer-Konzernsprecher dem Handelsblatt. Die entsprechende Kaufpreisverteilung erfolge nach den IFRS-Vorschriften. „Der daraus resultierende Goodwill repräsentiert für uns das zukünftige Innovationspotenzial und die strategischen Synergien aus den getätigten Akquisitionen.“
Mit dem Verweis auf die „International Financial Reporting Standards“, kurz IFRS, ist es den Unternehmen gestattet, auf Abschreibungen zu verzichten – und ihre Lasten vor sich herzuschieben.
Bayers Goodwill stieg seit 2005 um gut 40 Milliarden Euro auf 43,5 Milliarden Euro – bei einem Eigenkapital von 41,4 Milliarden Euro. Kein anderer deutscher Konzern hat durch Übernahmen so viele Firmenwerte angehäuft. Mehr als 20 Milliarden Euro trug der Kauf des US-Saatgutherstellers Monsanto bei.
Nicht im Risiko sieht sich auch Teamviewer, wo der Goodwill fünfmal so hoch ist wie das Eigenkapital. Der IT-Dienstleister verweist stattdessen auf den Börsenwert. „Bei einer Marktkapitalisierung von rund 2,5 Milliarden Euro bilden die rund 0,7 Milliarden Euro Goodwill entsprechend den IFRS kein Risiko.“
Bis vor zwei Jahrzehnten waren Unternehmen verpflichtet, den Goodwill innerhalb von zehn Jahren in Raten abzuschreiben. Durch diese Methode verringerten sich regelmäßig die Altlasten, aber auch die Gewinne.

Die Shoppingtour des Konzerns macht sich in der Bilanz bemerkbar.
Das sorgte beim Platzen der Technologieblase für schwere Einbrüche, weshalb die Wall Street sich für eine neue Praxis entschied: Seit 2001 überprüfen US-Firmen in einem „Impairment Test“ einmal jährlich die Werthaltigkeit ihrer Firmen- und Geschäftswerte auf Basis der Annahmen des eigenen Konzernmanagements. Ob die dabei vorgenommenen Annahmen realistisch sind, erschließt sich den Aktionären und der Öffentlichkeit nicht, denn sie haben keinen Einblick in den Test.
Europa führte diese Praktiken 2004 ein. Als Grundlage für diese Regelung dient die Annahme, dass die Unternehmen ihre wirtschaftliche Situation am besten selber einschätzen können.
Ergebnis der neuen Regelung ist, dass die Unternehmen kaum noch abschreiben und sich die Bilanzen immer mehr mit ungedeckten monetären Zukunftsannahmen aufblähen. Abschreibungen gibt es fast nur noch in Krisenzeiten, wenn sie sich gar nicht mehr vermeiden lassen, weil die Firmenwerte ihren ursprünglichen Wert verloren haben – oder aber bei Vorstandswechseln, wenn ein Neuanfang gefragt ist.
Konjunktur: Abschreibungen ja, Bilanzbereinigung eher nein
Experten warnen seit Langem davor, dass die Unternehmen nicht ausreichend für den gefährlichen Mix der globalen Krisen gerüstet seien. „Viele Firmen werden ihre Risikovorsorge noch einmal deutlich verstärken müssen“, mahnte Klaus-Peter Naumann, Vorstand des Instituts der Wirtschaftsprüfer, bereits im Herbst, als sich die Konjunkturaussichten zunehmend verschlechterten.

Der Goodwill ist bei dem Softwareunternehmen fünfmal so hoch wie das Eigenkapital.
Bilanzprüfer sehen die Unternehmen als so krisenanfällig an wie seit der Finanzkrise nicht mehr. „Bei einer anhaltenden Wirtschaftsschwäche könnten einige Unternehmen gezwungen sein, Abschreibungen vorzunehmen, was wiederum die Eigenkapitalquote mindern würde“, prognostiziert Markus Wallner von der Commerzbank.
Es dürfte allerdings kaum zu einer breit angelegten Bilanzbereinigung kommen. Zu groß ist die Sorge vor den Reaktionen an den Aktienmärkten. Wie sehr Abschreibungen Kurse in Turbulenzen bringen können, weiß kaum jemand besser als Warren Buffett.
Der weltweit bekannteste Großinvestor hält mit seiner Holding Berkshire Hathaway 26,6 Prozent der Aktien des Ketchup-Herstellers Kraft Heinz. 2019 gab der Konzern Abschreibungen über 15,4 Milliarden Dollar bekannt, darunter sieben Milliarden Dollar auf den bilanzierten Goodwill. Der sich schon vorher halbierte Aktienkurs fiel daraufhin um weitere 60 Prozent auf ein Rekordtief von 17,88 Euro.
Bei einer anhaltenden Wirtschaftsschwäche könnten einige Unternehmen gezwungen sein, Abschreibungen vorzunehmen. Markus Wallner, Analyst Commerzbank
Und so schöpfen viele Unternehmen den Spielraum, den sie mit Blick auf die Firmen- und Geschäftswerte haben, aus: Sie können etwa den regionalen Zuschnitt verändern, indem beispielsweise der Goodwill aus dem Südamerikageschäft in das gesamte Amerikageschäft verschoben wird. Oder indem Planungshorizonte verändert und um einige Jahre erweitert werden. Wirtschaftsprüfer haben wenig Möglichkeiten, solch geänderte Annahmen der Unternehmen infrage zu stellen.
Aktionäre sollten sich jedoch fragen, ob die hohen Werte der einst zugekauften Firmen immer noch die Erwartungen erfüllen, wie es in der Bilanz steht. Die Handelsblatt-Analyse weist beispielsweise SAP und Fresenius mit besonders stark gestiegenen Goodwill-Beständen aus.
Innerhalb eines Jahrzehnts kaufte Ex-Chef Bill McDermott für SAP mehr als 20 Unternehmen hinzu. Allein der Datenbankspezialist Sybase, das Handelsnetzwerk Ariba, der Reisekostenanbieter Concur und der Cloud-Spezialist Successfactors kosteten knapp 20 Milliarden Euro. SAPs Goodwill ist seit 2011 von 8,7 auf 35,7 Milliarden Euro gestiegen. Das heißt, Europas größter Softwarehersteller hat für viele Firmen mehr bezahlt, als sie rechnerisch wert waren.
Fresenius hat nach vielen teuren Zukäufen in den vergangenen Jahren seine Hoffnungswerte auf 33 Milliarden Euro erhöht. 2005, kurz bevor die Abschreibungsregeln gelockert wurden, waren es noch 4,7 Milliarden Euro.
Dass sich der Aktienkurs bei Fresenius in den letzten vier Jahren halbierte, sollte laut Experten als Warnindiz verstanden werden. In der Vergangenheit waren fallende Kurse häufig ein zuverlässiger Indikator für bevorstehende Abschreibungen. Ob Heidelberg Materials, BASF oder Continental: Bevor die Unternehmen mit ihren Milliardenabschreibungen schockierten, war die Aktie überdurchschnittlich stark gefallen.
Mehr: Deutsche Unternehmen wappnen sich für den Abschwung
Erstpublikation: 23.01.23, 04:00 Uhr.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.
@Matthias Wolff Da übersehen Sie, dass die IFRS-Bilanz lediglich der Information der Öffentlichkeit dient. Für die Ausschüttungsbemessung ist weiterhin der (Einzel-)Abschluss nach HGB zuständig. Hier ist der Goodwill abzuschreiben. Steuerrechtlich ist dabei sogar die Nutzungsdauer i. H. v. 15 Jahren vorgegeben (§ 7 Abs. 1 Satz 3 EStG). Es kommt hier also zu einem "Auseinanderfallen" von IFRS- und Steuerbilanz, weshalb die (hohe) Bewertung in den IFRS-Bilanzen keine Auswirkungen auf die Steuerbelastungen haben.
Nach meinem Wissen dürfen die Konzerne den Goodwill nicht mehr einfach innerhalb von 10 Jahren abschreiben, selbst wenn sie wollten. Sie sind sogar verpflichtet, zuzuschreiben, wenn die Analyse ergibt, dass der zugekaufte Teil mehr geworden ist.
Grund dafür ist, dass Abschreibungen zu weniger Gewinn führen. Das mag zwar manche Firma nicht gerne publik machen, aber es hat den Vorteil, dass man dann auch weniger Steuern zahlen muss. Aber das sieht Vater Staat gar nicht gerne. Die neuen Regeln dienen also der Steuermaximierung.
Lieber Herr Ulf Sommer, wenn Sie schon die "Dax-Konzerne mit schlechtem Goodwill" so schön und eindrucksvoll in Ihrer wunderschönen Grafik zeigen, dann sollten Sie auch die "Dax-Konzerne mit GUTEM Goodwill" ein einer noch wunder viel schöneren Grafik zeigen.
Übrigens: Wenn die europäischen Aktien unterbewertet sind, dann ist auch deren Marktkapitalisierung geringer und damit das Verhältnis zum Eigenkapital ungünstiger.
IFRS ist mit Sicherheit nicht das "Gelbe vom Ei" aber immer noch deutlich konservativer als US-GAAP. Dort lassen sich zukünftige Gewinne quasi schon heute in die Bilanz schreiben. Blöd, wenn die Gewinne nicht eintreffen. Insofern tut man alles, damit die Gewinne "eintreffen" - siehe Tech - Unternehmen: Leute feuern!
Ob das dann so gut ist? Siehe Twitter? - oder einfach nur chaotisch?
Aber DANKE für die "Dax-Konzerne mit schlechtem Goodwill". Wie gesagt - wo bleiben die Guten?